Trauer um Eberhard Schockenhoff

von grenzfragen

Mit Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff ist einer der bedeutendsten Ethiker und Theologen verstorben, der sich besonders in Fragen des Lebensanfangs und des Lebensendes einen Namen gemacht hat. Schockenhoff hat mit seinen klaren Positionierungen sowohl gegen theologischen Konservativismus als auch gegen Naturalismus Stellung bezogen und die Diskussionen auch der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart nachhaltig bereichert.

Als bescheidene Würdigung erinnern wir zum einen an seine Äußerungen zur Bestreitung der Willensfreiheit des Menschen als auch an das Interview anlässlich der Bundestag-Entscheidung zur kontrollierten PID-Zulassung (2011), in dem er vor einer “Brutalisierung des medizinischen Denkens” warnt.

Abschied von der Willensfreiheit?

      Eberhard Schockenhoff - Das Vermögen zur Freiheit

Den gesamten Vortrag, dem die wiedergegebene Hauptthese entstammt, finden Sie bei der Fach-Tagung “Neurowissenschaften im interdisziplinären Dialog“.

Christliche Orientierung am Lebensanfang und am Lebensende

    E. Schockenhoff zu PID und assistiertem Suizid

    Transkript des Interviews

    Heinz-Hermann Peitz

    Wir haben Sie eingeladen zu einer Tagung “Selbsterschaffung des Menschen” und sie sollten Ihre Position, die christliche Position, vertreten zum Thema Orientierung, christliche Orientierung am Lebensanfang und am Lebensende. Was wären da Ihre Positionen?

    Eberhard Schockenhoff

    Grundsätzlich ist die Einstellung des christlichen Glaubens gegenüber menschlichem Leben, dem Leben jedes Menschen, die einer großen Ehrfurcht und des Verzichts darauf, über das Leben des anderen nach eigenen Interessen und Eigennutzen verfügen zu wollen. Im anderen Menschen begegnet mir ein Mensch, der wie ich als Person nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist, hinter dem die Liebe Gottes des Schöpfers steht und der deshalb für mich selbst ein Wesen ist, das ich anzuerkennen und zu achten habe, auch aus Ehrfurcht vor dem Schöpfer – im säkularen Bereich nennen wir das die Menschenwürde, die wir anerkennen. Und das ist letztlich der Respekt, den wir auch vor der Freiheit des anderen haben. Weil wir aber körperliche Wesen sind, die nicht nur reine Geistwesen, reine Vernunftwesen sind, muss der Respekt vor der Freiheit des anderen auch die Achtung vor seinem leiblichen Leben umfassen.

    Heinz-Hermann Peitz

    Konkretisieren wir die Frage mal, bezogen auf den Anfang des Lebens. Da wird es ja gerade ganz konkret aktuell bei der Präimplantationsdiagnostik.

    Eberhard Schockenhoff

    Das ist ein sogenanntes gemischtes Urteil. Das ist eine ganz konkrete Frage: Wann beginnt das individuelle menschliche Leben, ein Menschenleben, das dann auch Anspruch auf Schutz und Förderung besitzt? Das ist nicht allein Aufgabe der Medizin, der Biologie, auch nicht allein Aufgabe der normativen Wissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Philosophie, der Theologie, sondern das braucht eine interdisziplinäre Zusammenschau.

    Ab wann ist der Mensch ein Mensch?
    Ed Uthman from Houston, TX, USA / CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)

    Näherhin müssen wir versuchen, die Auskünfte, die uns die Embryologie, die Entwicklungsbiologie des Menschen, über die Anfangsstadien des Lebens zur Verfügung stellt, zu interpretieren im Licht grundsätzlicher Überzeugungen, anthropologischer Einsichten und normativer Prinzipien. Zu den grundlegenden Überzeugungen gehört die Achtung vor der Menschenwürde, und die Menschenwürde kommt jedem Menschen von sich aus zu. Sie wird nicht verliehen durch gesellschaftliche Übereinkunft, sondern sie kommt dem Menschen vom Ursprung seiner Existenz an zu. Das ist auch keine religiöse Sonderüberzeugung des christlichen Glaubens, sondern das ist Grundlage des Respektes, den wir einem anderen entgegenzubringen haben, dass wir die Würde nicht als etwas ansehen, was wir ihm erst verleihen, sondern was wir beide unabhängig voneinander haben, was uns beiden gemeinsam vorgegeben ist.

    Dann ist eine solche Überzeugung das Tötungsverbot. Darin drückt sich auch der Respekt vor dem Leben des anderen aus und der Gleichheitsgrundsatz; das sind grundlegende Prinzipien einer demokratischen Rechtsordnung. Und wenn wir nun die verschiedenen möglichen Anknüpfungspunkte für den Beginn des Lebensschutzes, den uns die Entwicklungsbiologie des Menschen zur Verfügung stellt, betrachten, dann dürfen wir nicht einfach, wenn wir diese normativen Prinzipien ernst nehmen, ein beliebiges Datum herausgreifen – vielleicht sogar interessegeleitet –, das dann von unseren Möglichkeiten des Zugriffs abhängt, sondern wir müssen eine unparteiliche Perspektive einnehmen, aus Gerechtigkeitsgründen; wir müssen auch unseren Interessen an einem vielleicht späten Zeitpunkt gegenüber die Eigeninteressen und die eigene Perspektive des Embryos zur Geltung bringen. Das heißt, wir müssen das am wenigsten willkürlich gewählte Kriterium aus Gerechtigkeitsgründen bevorzugen. Und das ist nach gesicherten Erkenntnissen der modernen Biologie eben der Abschluss der Befruchtung. In der Befruchtung, in dem Befruchtungsprozess (das ist ja ein Geschehen, das ungefähr 24 Stunden dauert) kommt es zum Austausch der väterlichen und mütterlichen Gameten nach dem Zufallsprinzip, und dadurch entsteht ein neues Lebewesen mit einem eigenen Genom, dem Entwicklungsprogramm dieses neuen Lebewesens, und wenn wir jetzt alle späteren Zeitpunkte damit vergleichen, zum Beispiel auch die Nidation, die am ernsthaftesten noch in Betracht käme, dann zeigt sich, dass am Anfang ein qualitativer Sprung ist, wo wirklich etwas Neues entsteht, was zuvor nicht war. Während es in allen späteren Zeitpunkten dann nur darum geht, dass dieses Neue, das in der Befruchtung entstanden ist, dann durch Gefahrenzonen hindurchgeht oder Entwicklungsschübe macht, sich in der Existenz erhält, aber nicht, dass etwas Neues in vergleichbarer Weise entsteht wie bei der Befruchtung.

    Bei der Nidation kommt es darauf an, dass der neue Mensch, der in der Befruchtung entsteht, sich dann auch im Uterus einpflanzen und dort die Voraussetzung seines weiteren Wachstums finden kann, also Wärme, Nahrung, Schutz. Aber es ist nicht so, dass in der Nidation erst noch etwas Wesentliches zur Vervollständigung des Entwicklungsprogrammes hinzukäme.

    Heinz-Hermann Peitz

    Die Argumentation hört sich jetzt sehr vernünftig an, vielleicht philosophisch. Wie vermitteln Sie Ihre Position, die auch von der christlichen Ethik herkommt, in einem Gremium wie dem Nationalen Ethikrat, wo ja auch sehr viele säkulare Zeitgenossen sind?

    Wie macht man das? Welche Argumente? Man kann ja schlecht von einem katholischen Standpunkt ausgehend argumentieren, weil der ja voraussetzungsreicher ist als eine rein philosophische Argumentation.

    Eberhard Schockenhoff

    Also das ist dann nicht nur ein kirchlicher Standpunkt, sondern das ist auch die Grundlage des Embryonenschutzgesetzes. Das ist auch unter säkularen Voraussetzungen eine zustimmungsfähige Position, die man mit sachlichen Gründen eigentlich vertreten kann. Natürlich gibt es im Ethikrat auch entgegengesetzte Positionen, die sogenannte “graduelle Schutzwürdigkeit”. Dass menschliches Leben zwar grundsätzlich als schutzwürdig angesehen wird – das lässt sich auch nicht bestreiten auf der Basis gesicherter Erkenntnisse der Biologie, dass menschliches Leben mit der Befruchtung beginnt – aber dann wird noch nochmal eine Abstufung vorgenommen. Man sagt, im Anfang ist das zwar ein grundsätzlicher Schutz, aber der ist noch nicht so intensiv, dass er jede Abwägung mit Gütern und Rechten, Interessen Dritter auf der anderen Seite ausschließen würde. Und man nimmt dann an, dass der Schutz sich allmählich aufbaut und erst von der Nidation an ein uneingeschränkter Schutz wäre. Gegen diese Position kann man mit beachtlichen Einwänden argumentieren.

    Man kann zum Beispiel fragen: Was ist das für ein Schutz? Was ist dieser Schutz wert, wenn er nicht den Schutz vor dem größten Übel, nämlich der Vernichtung, der gezielten Tötung oder Instrumentalisierung, Selektion, umfasst? Und man kann auch fragen: Inwiefern ist das überhaupt eine Schutzkonzeption? Denn das Anliegen dieser graduellen Schutzkonzeption ist ja nicht der Lebensschutz für den Embryo, sondern das Anliegen ist, für die Interessen der Forschung oder eventuell auch künftiger Patienten gegenüber dem Lebensschutz einen Freiraum zu gewinnen und durchzusetzen. Deshalb wäre das eigentlich eher eine konditionierte, an Bedingungen geknüpfte Zugriffsposition als ein Schutzkonzept.

    Heinz-Hermann Peitz

    Nun gibt es ja auch gute Gründe, seriöse Gründe von Befürwortern der Präimplantationsdiagnostik. Welche wären das für Sie, wo man wirklich ernsthaft ins Gespräch einsteigen muss?

    Eberhard Schockenhoff

    Es gibt auch religiös motivierte Befürworter der Präimplantationsdiagnostik, die mit dem Gebot der Nächstenliebe argumentieren, der Hilfeleistung für betroffene Eltern und dem Gebot, Leid und Schaden zu vermeiden. Aber dieses Argument kann man mit kritischen Anfragen konfrontieren.

    Mitleid ist eine zutiefst christliche Haltung. Aber die meint die Bereitschaft und die Fähigkeit, fremdes Leid mitzutragen, nicht, fremdes Leid dadurch aus der Welt zu schaffen, dass man die Träger von Erkrankungen und Behinderungen selektiert. Das ist eigentlich eine im Kern unchristliche Einstellung, weil sie den anderen mit seinem Leiden und mit seiner Behinderung nicht annimmt, sondern sich selbst ein Urteil darüber anmaßt, welches Leben gelebt werden darf und welches Leben nicht gelebt werden darf.

    Heinz-Hermann Peitz

    Im Vorgespräch haben Sie mal eine Krankheit exemplarisch herausgegriffen, das war Mukoviszidose.

    Eberhard Schockenhoff

    Die Schwierigkeit ist, dass es zwar bei genetisch bedingten Erkrankungen oder Behinderungen ein Risiko, bei monogenetischen Erkrankungen sogar eine nahezu hundertprozentige Gewissheit für das Auftreten der Behinderung oder Erkrankung geben kann.

    Aber man kann nicht den Grad der Symptomatik prognostizieren, also wie sie sich konkret ausbreitet, ob es ein schwerer Verlauf oder ein mittelschwerer oder ein leichterer Verlauf ist. Schon das ist eigentlich ein starkes Argument dagegen zu sagen: Wir meinen nur schwerwiegende Erkrankungen. Die kann man im Einzelnen gar nicht mit nötiger prognostischer Sicherheit identifizieren. Und dann gibt es ja auch künftige therapeutische Fortschritte.

    Und eigentlich ist das eine ganz andere Logik des ärztlichen und medizinischen Denkens. Die ärztliche Aufgabe ist es ja, Leiden zu mindern und Krankheiten zu heilen. Sie steht im Dienst des einzelnen erkrankten Menschen, des Individuums, als kurative Medizin. Aber nun gibt es eben Behinderungen und teilweise auch vorgeburtlich zu diagnostizierende Erkrankungen, für die haben wir noch keine ausreichenden therapeutischen Ansätze. Und deshalb verwandelt sich die ärztliche Einstellung, die Logik des medizinischen Handelns: Jetzt wird nicht mehr eine Krankheit geheilt und dem kranken Menschen geholfen, sondern die Krankheit wird verhindert, indem man den Träger der potenziellen Krankheit aussondert. Krankheiten werden geheilt, indem kranke Menschen vernichtet werden. Und das ist eigentlich eine Brutalisierung des medizinischen Denkens.

    Steigerung des Überlebensalters bei Mukoviszidose
    Abbildung gemeinfrei

    Und nun kommt es aber auch Gottseidank dazu, dass in dem klassischen Bereich der kurativen Therapie im Laufe der Zeit Fortschritte gemacht werden, zum Teil auch erhebliche Fortschritte. Dafür ist die Mukoviszidose ein gutes Beispiel. Früher sagte man, dass auch bei leichteren Krankheitsverläufen, die Menschen ein sehr begrenztes Lebensalter von höchstens 20 Jahren haben. Mittlerweile ist das deutlich angestiegen, und auch die Symptome lassen sich bei leichten und mittleren Verläufen besser behandeln.

    Heinz-Hermann Peitz

    Am Rande: Ein bekannter Arzt hat mal aus einer Biografie eines Mukoviszidosekranken zitiert: „Früher wurde mir gesagt, mit 16 ist dein Leben zu Ende. Als ich dann 16 war, wurde mir gesagt, mit 20 ist dein Leben zu Ende. Als ich 20 Jahre war, wurde mir gesagt, mit 30 wird dein Leben wahrscheinlich zu Ende sein. Langsam glaube ich, ich bin unsterblich.“

    Eberhard Schockenhoff

    Im Ethikrat ist ja Peter Radtke, dieser beliebte Schauspieler. Er sagt, seinen Eltern hat man gesagt, er hat die Glasknochenkrankheit. Er könnte höchstens zwei Jahre alt werden. Mittlerweile ist er 62, und es gibt viele Menschen, die an Mukoviszidose erkrankt sind. Die führen kein beschwerdefreies Leben, aber sie haben ein Leben, das sie mit erfüllenden Berufen, mit privatem Lebensglück in Familie und Ehe führen. Diese Menschen würden es als verstörend empfinden, wenn man ihnen ernsthaft sagen würde: Also, wenn wir damals die PID gehabt hätten und das abwägen, dann hätten wir dir doch ein Leben unter diesen Bedingungen ersparen können. Dann wäre es doch vernünftig gewesen, um dir dieses Leid nicht zuzumuten, deine Weiterentwicklung mit Hilfe einer vorgeburtlichen Untersuchung sozusagen rechtzeitig aufzuhalten.

    Heinz-Hermann Peitz

    Mukoviszidose ist ein gutes Beispiel, um auch mal den Blick aufs Lebensende zu richten, der zweite Teil, den wir bei Ihnen angefragt hatten. Es gab einen interessanten Tatort (“Der glückliche Tod“), in dem ein solches Schicksal geschildert worden ist. Eine Mutter konnte es einfach nicht ertragen, wie ihr Kind unter Mukoviszidose gelitten hat; sie wollte den Weg versuchen, über einen assistierten Suizid dem Leben ein Ende zu bereiten. Da sind wir jetzt an der anderen Schaltstelle, nämlich dem Ende des Lebens. Wie sieht es da aus mit der christlichen Orientierung?

    Eberhard Schockenhoff

    Im Prinzip ist das der gleiche Grundsatz, dass Mitleid und Solidarität mit einem leidenden Menschen sich darin äußern, dass man diesen Menschen nahe bleibt und ihm als Person hilft, seine Situation zu ertragen. Mitleid ist nicht nur ein reaktives Gefühl, das im Grunde eine Art Selbstmitleid ist, während es ja tatsächlich ein Gefühl der Ansteckung ist, das sich vom Leid des anderen anstecken lässt. Das ist einer der entscheidenden Vorbehalte, die in der philosophischen Ethik immer gegen das Mitleid vorgebracht wurden, aber als tatsächliches Verhalten, als eine belastbare Einstellung und Haltung, die beim anderen bleibt und sich nicht abwendet von ihm, sondern im Leiden bei ihm ausharrt, ist das eine aktive Einstellung zur Person des anderen – mit dieser grundsätzlichen Bejahung, die sagt: Auch das Sterben gehört zum Leben, und auch das Ertragen von Leidenszuständen am Lebensende ist selbst noch ein Teil des Lebens.

    Mit dieser Grundeinstellung zum Leben bis zuletzt sind Handlungsweisen wie die Tötung auf Verlangen oder auch der assistierte Suizid unvereinbar. Das Beispiel zeigt ja auch: Wenn eine Mutter beschließt, auf dem Wege des assistierten Suizids, ihrem Kind das Weiter-Leiden zu ersparen, dann ist das ja nicht ein freiwilliger Suizid. Sondern es ist irgendwie ein arrangierter oder nahegelegter Suizid. Und das ist der Einwand gegen den assistierten Suizid. Es wird ja von vielen in Deutschland diese Lösung darin gesehen, dass man sagt, wir wollen in unserem Land aus historischen Gründen nicht die Tötung auf Verlangen legalisieren, nicht den Weg der Benelux-Länder gehen – auch aufgrund der dort gemachten Erfahrungen, dass man das dann eben doch nicht begrenzen kann; dass es dann auch zu nicht freiwilligen Tötungen kommt, indem man einfach vermutet, es wäre im besten Interesse des anderen – aber weil er nicht mehr einwilligungsfähig ist, man auf die Zustimmung verzichtet. Also, da gibt es dann auch Ausweitungen. Diesen Weg wollen wir nicht gehen, aber deshalb müssen wir ein anderes Ventil, den assistierten Suizid, bedenken. Und das Problem ist, dass wir aus der Suizidforschung wissen, dass 90 Prozent aller Suizidhandlungen eben nicht eine Vollendung der Freiheit darstellen, sondern eher der Abschluss einer eingeschränkten Freiheit sind, ein pathologisches Geschehen. Und die Freiwilligkeit einer solchen Suizidbitte oder Assistenzbitte zum geplanten Suizid steht unter einem starken Zweifel. Nun kann man philosophisch nicht ausschließen, dass es auch den rationalen Bilanzsuizid gibt.

    Heinz-Hermann Peitz

    Nehmen wir die zehn Prozent, von denen Sie ja ausgegangen sind.

    Eberhard Schockenhoff

    Aber auch da ist das Problem, dass allein die Tatsache, dass man um diese Möglichkeit weiß, dass diese Möglichkeit auch in den Köpfen der anderen, der Gesunden, der Ärzte und so weiter als eine Option verankert ist, natürlich einen starken Druck schafft. Allein wenn ich weiß, es gibt diese Möglichkeit, erhöht sich der Druck auf einen Sterbenden, sozusagen als letzte Anstandspflicht, diesen Dienst zu tun. Es gibt medizinische Situationen, Leidenszustände am Ende, wo man auch einen hohen Aufwand an menschlicher Betreuung, an Pflege, vielleicht auch an Palliativmedizin bräuchte, um diesen letzten Lebensweg in menschenwürdiger Begleitung und Versorgung gehen zu können. Und die Gesellschaft würde, wenn sie den assistierten Suizid zulässt oder irgendwie auch empfiehlt, ja auch Menschen in diesen Situationen das Signal geben: Es ist zumindest gesellschaftlich akzeptiert, unter der Hand auch erwünscht, dass ihr euch aus eigenem Entschluss davon befreit und sozusagen aus der Mitte der Lebenden entschwindet. Und allein das Wissen darum, dass es diese Möglichkeit als eine gesellschaftlich Akzeptierte gibt, schafft einen erheblichen Druck, sie auch tatsächlich zu nutzen.

    Heinz-Hermann Peitz

    Zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Ausnahmesituationen kann man ja nochmal unterscheiden. Während das eine ja vielleicht normativ wirksam ist, könnte dieser Ausnahmezustand aber doch irgendwie zu einer verstehenden Suizidethik führen statt zu einer verurteilenden Suizidethik. Wie ist da die katholische Position?

    Eberhard Schockenhoff

    Also ein Urteil im Sinne einer moralischen Verurteilung über die Motive, die hinter einem Suizidversuch stehen, ist eigentlich in aller Regel niemandem gestattet. Natürlich kann man auf den ersten Blick von außen sagen, dass es eigentlich nicht akzeptabel ist, wenn zum Beispiel ein reicher Geschäftsmann Suizid begeht, weil er sich verspekuliert hat und das nun nicht ertragen kann, dass sein Selbstbild eines erfolgreichen Firmenlenkers Kratzer bekommt. Das ist auch für die Familie und für viele andere Menschen, die diesem nahestehen, eigentlich ein Sich-aus-der-Verantwortung-Ziehen aus fragwürdigen Gründen.

    Aber es gibt sicher auch viele Suizidhandlungen, wo man sagen muss, dass es respektable Gründe sind, für die man Verständnis äußern kann. Aber eine demokratische Gesellschaft ist ja gebaut auf dem Respekt vor dem Leben jedes einzelnen Menschen. Und sie hat diesen Respekt, der ihr zugrunde liegt, gegenüber dem Leben jedes Menschen, auch gegenüber Suizidwilligen aufzubringen. Und wenn ich jetzt andeuten würde, dass sie in Ausnahmesituationen, die dann weiter geregelt werden müssten, das auch für einen vertretbaren und vielleicht sogar wohlbegründeten Ausweg hält, dann würde sie ja diesen suizidwilligen Personen eine Botschaft übermitteln. Und das würde ihrer Suizidneigung oder der Neigung, den Gedanken auch entsprechende Taten folgen zu lassen, in einer unverantwortlichen Weise fördern. Und es würde die Hemmschwelle senken, die in unserer Gesellschaft viele an einem Suizidversuch hindert. Und deshalb sollte auch keine Erklärung abgegeben werden, dass ein ärztlicher Suizid grundsätzlich oder eine Suizidbeteiligung grundsätzlich ärztliches Handeln sein könnte oder mit dem Handeln nicht unvereinbar wäre. Daher begrüße ich es, dass der Deutsche Ärztetag mit wünschenswerter Klarheit und Deutlichkeit gesagt hat: Das ist eine mit dem ärztlichen Ethos nicht zu vereinbarende Tätigkeit; und zwar auch dann, wenn der einzelne Arzt von seinem individuellen Gewissen her sich eine solche Beteiligung vorstellen könnte.

    Heinz-Hermann Peitz

    Christliche Orientierung am Lebensanfang und am Lebensende. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Professor Schockenhoff.